Von Heimat bis Hänselei

Die Schreibende-Arbeiter-Forschung erforscht die Schreibenden Arbeiter, z.B. diesen hier:

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Was heute exotisch bis kurios anmutet, war in der DDR nichts Besonderes, man wurde mehr oder weniger einfach "hineingeboren". Jeder Thälmannpionier mußte Mitglied einer außerschulischen Arbeitsgemeinscheinschaft sein, ich kam in die "AG Chemische Technologie", durfte aber schon bald in die "AG Schreibende Schüler" wechseln. Das fand ich irgendwie interessanter, die bunten Bücher mit den Katzengeschichten, die herbstlichen Werkstattwochen in Günthersberge, Stolberg oder Friedrichsbrunn. Der Übergang zur FDJ-Poetenbewegung war auch bruchlos. Und die Bezirks- Poetenseminare fanden in Goseck oder Mühlbeck statt.

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Als ich dann Schreibender Arbeiter wurde, war das die Zeit der Braunkohlenfeuerungen, des Mix- Kaffees und der Kuba- Apfelsinen.

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Im Kombinat wurde das Holzgasauto noch einmal erfunden und Literaturzirkel traf sich 14-tägig dienstags nach Feierabend im Klubhaus. Der Leunaer Zirkel war eine Art Vorzeigeprojekt der Kulturbürokratie und schon bald schrieb ich fleißig mit. Doch mit dem Motto: Das bißchen, was ich lese, schreibe ich selbst! war es dort nicht getan. Gültig sollte der jeweilige Text schon werden, das war das gemeinsame Ziel. Also galt es, gültige Texte zu finden und zu analysieren. In Leuna waren das u.a. Gedichte von Erich Arendt und Kalendergeschichten von Erwin Strittmatter. Der Zirkelleiter war Mitherausgeber eines umfangreichen Buches "Vom Handwerk des Schreibens" und auch die Quartalszeitschrift "ich schreibe" wurde regelmäßige Lektüre und Diskussionsstoff. Aber es ging nicht nur um das Handwerk, mindestens ebenso arbeiteten wir uns am roten Faden ab: Sein und Bewußtsein, Optimismus und/oder "Larmoyanz" (franz. Weinerlichkeit) angesichts der internationalen Klassenauseinanandersetzung. Kämpfer oder Schwamm? - was sollte der Held bzw. die Heldin unseres großen Prosatextes sein?

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Das Ausmaß meiner Identifikation mit dem Leunaer Zirkel reichte von Heimat bis Hänselei. In einem meiner Texte ("Das geschätzte Mischbrot") ging es um die Subventionierung von Lebensmitteln. Im 'Leunaecho' wurde die Geschichte dann unter dem veränderten Titel "Ich bin ein Mischbrot" abgedruckt, womit man mich im Kollegenkreis eher zum "Heinz" machte. Das bestätigte natürlich alle Vorurteile gegen Schreibendes Arbeitertum. Also mied ich bald das 'Leunaecho' und beschickte lieber den Literaturwettbewerb 'Ein gutes Wort zur guten Tat', die Anthologien des Zirkels und die Veröffentlichungen des Bezirksliteraturzentrums. Was den schönen Nebeneffekt hatte, dass dessen Schreiben die "Giftschränke" der Deutschen Bücherei in Leipzig öffnen konnten.

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Dort gab es auch eine riesige Auswahl an fast aktuellen Zeitschriften und als Schichtarbeiter hatte ich gelegentlich tagsüber Zeit, mich in den Beständen der DB "festzulesen". Die Bildungseffekte waren unverkennbar, aber es sollte ja der eigene große (oder wenigstens lange) Text sein. Und da hatte das Kollektiv nichts zu melden. Während gemeinsames Lernen DDR-typisch problemlos möglich war, galt es schon bei eigenen Gedichten und Kurzgeschichten, sich nicht vom individuellen "Töpfchen schubsen" zu lassen.
"Politisch' Lied, ein garstig Lied", sagte schon der Klassiker. In der Frage "Vom Ich zum Wir?" stand ich also eher auf Seiten des "Klassenfeindes". Gegen Kollektivismus und Geichmacherei, aber nicht aus einer ideologischen Denkfigur heraus, sondern mehr als Teil allgemeiner Selbstbehauptung.

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Strafverschärfend kam noch hinzu, das mein Text Elemente eines klassischen (eher aufklärerischen) Buches adaptieren sollte. Das war zwar damals sehr beliebt, die einseitige Fixierung der Parteispitze auf die Weimarer Klassik sorgte aber auch bei solchen Texten für zusätzliche Komplikationen. Also schrieb ich den langen Text im stillen Kämmerlein und gleichzeitig Gebrauchsprosa für die zahlreichen Auftritte des Zirkels in Halle-Neustadt, Merseburg, Neubrandenburg und Frankfurt/ Oder.

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Belletristische Literatur hatte damals auch Funktionen des (wie fast immer) streng durchherrschten Journalismus übernommen, was aber kaum als einengend wahrgenommen wurde. Man mußte nur mit dieser Art der Aufmerksamkeit umgehen können. Ideologisch gab man (mit Luther) "dem Kaiser, was des Kaisers war".

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Aufbegehren gab es nur, wenn der "ideologische Zehnt" erhöht wurde, etwa während der "Biermann-Affäre". Eine Abstraktionsebene höher war die Folie längst Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsbewegtheit. Als die Politbürokratie sowjetscher Prägung schließlich Opfer ihrer eigenen Konzeptionslosigkeit wurde und die politische "Wende" einleitete, waren die Schreibenden Arbeiter zunächst erst einmal herzlich unwichtig. Der "Werkkreis Literatur der Arbeitswelt" trat auf den Plan und wirkte zwar etwas moderner, aber noch kraftloser. Die Möglichkeit zur Einsicht in MfS-Akten sorgte kurzzeitig für dezentes Erschrecken über das Ausmaß der Überwachung.
Doch bald verdrängten Treuhandkriminalität und der Verlust des eigenen Arbeitsplatzes diese Irritationen. Direktes politisches Engagement hatte plötzlich einen hohen Stellenwert, bei mir waren es 'Demokratie Jetzt' und 'Bündnis 90', die dann in der Grünen Partei aufgingen. Auch publizistisch tummelte ich mich eher in der Grünen Landeszeitung und im Freundeskreis Science Fiction.
Ins Blickfeld geriet organisiertes Schreiben erst wieder 1992 mit dem Aufruf des Autorenverbandes e.V.: 'Wie geht es Euch? Jetzt? Gedanken über Deutschland.' Die Gedanken habe ich mir dann wirklich gemacht und sie erschienen auch 1993 in der Textsammlung 'Land, ich fasse deine Nähe nicht...'. Ein später Höhepunkt organisierten Schreibens in und um Halle war auch die Anthologie des 'Förderkreises' gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit 'Wer dem Rattenfänger folgt' von 1998.



Der Bildungsvorsprung durch die Zirkelarbeit war noch einmal nützlich, als ich während einer zeitweiligen Beschäftigung im Halleschen Lokalradio-Projekt nach kurzer Einarbeitungszeit Wochenendlehrgänge zum 'Schreiben für's Hören' und zu 'Reportage, Interview, Hörspiel und Feature' mitgestalten konnte.
Der Leunazirkel trifft sich jetzt etwa zweimal pro Jahr eher gesellig an Ausflugszielen oder nostalgischen Lokalitäten. Größere gesellschaftliche Anstöße sind wohl nicht mehr zu erwarten, eher ein durchaus fruchtbarer Blick auf die heutige Umbruchssituation. Weniger auf die (wie auch immer) Revolution, eher auf viele kleine Revolten, etwa die der Studierenden oder der Hartz-Deklassierten. Mit der wirtschaftlichen Deklassierung und gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit rückten politisches und publizistisches Denken also wieder näher zusammen. Und zu alle dem bleibt mir als ehemaligem Schreibendem Arbeiter das Bewußtsein, ein Stückchen der bis heute ausgebeuteten DDR-Binnenexotik mit geschaffen zu haben.

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