Mittwoch, 16. September 2009

Unterwegs von Hartzland nach Billiglohnland

“Unterwegs von Deutschland nach Deutschland” steht auf dem grauen Minivan, der am Mittwoch Abend vor dem "Volkspark" in Halle/S. parkte. Damit tourt Günter Grass als SPD-Wahlkampfhelfer durch die Hartz-geschädigte Republik. In Halle dabei waren noch der Dresdner Vorort-Lyriker Thomas Rosenlöcher sowie der örtliche SPD-Direktkandidat Johannes Krause. Grass und Rosenlöcher lasen beide aus ihren Wende-Tagebüchern, da konnten sie Authentisches von sich geben und hatten auch zweifellos Recht.
Dann Wahlparolen auf Stammtisch-Niveau: Grass meinte, die Mindestlohn-Forderungen der Linkspartei seien populistisch und überhaupt hätte diese Partei immer noch ihre alleinige Schuld an den DDR-Verhältnissen abzutragen. Wer hat denn den bundesdeutschen Billiglohn-Sektor erfunden, möchte man fragen, aber fragen durfte nur Johannes Krause - in seiner Funktion als Direktkandidat, Funktionär von DGB und IG Chemie, Aufsichtsrats-Mitglied der Stadtwerke, der EVH, der HAVAG, der ARGE SGB II Halle GmbH, als 1. Sprecher der Initiative Zivilcourage, Synodale der ev. Kirchenprovinz usw. Diesem Multifunktionär noch mehr Gefolgschaft zu organisieren, haben sich die beiden Dichter nun zur Aufgabe gemacht. Rosenlöcher berichtete von seinem letztlich vergeblichen Kampf gegen die Waldschlösschen-Brücke. Und wie Goethe nach Italien, floh Rosenlöcher in die Türkei. Umständlich beschreibt er die Warterei auf das Flugzeug, aber dann am Strand auf dem "Teutonengrill" kam ihm die Erleuchtung: eine selbstbewußtere SPD muss her und deshalb kämpft er jetzt Wahl! Das ist das Stichwort für Grass, der die FDP neoliberal findet. Hartz-Vollstrecker Krause pflichtet ihm wortreich bei. Nicht nur ich finde das unbefriedigend, ein kleiner Junge auf dem Schoß seiner Mutti will endlich mitreden: "Und dann hat der Kasper gesagt, jetzt trinken wir was..."
"Ein älterer, aber leicht besoffener Herr" fällt mir ein, aber Tucholskys Wahlversammlungs-Bummler bräuchte heute so viel Alkohol, dass er nicht lange durchhalten würde. Grass schwärmte noch von Willy Brand, bei dessen Kniefall in Warschau er dabei sein durfte, Genscher findet er gut, Ulla Schmidt bewundert er und Schröder hätte uns vor der Verstrickung in den Irakkrieg bewahrt. Überhaupt scheint der alte Kamerad immer noch das Prinzip von Führer und Gefolgschaft hoch zu halten. Was jetzt keine Faschismus-Anspielung sein soll, eher eine Reminiszenz an US-Präsident Wilson und seinen Pferdeflüsterer Lippmann, die die "gelenkte Demokratie" nach Brest-Litowsk im gesamten Westen als alleiniges Herrschaftsprinzip durchgesetzt hatten. Grass las noch ein sentimentales Gedicht über Danzig, in dem organisierte Vertriebene keine Chance gegen lautgemalte Ostseewellen haben.
"Aber so ganz ohne Sozialdemokraten fehlt auch was", sagte ein Zufallsbekannter zu mir, das sähe man ja in Sachsen. Wobei es mittlerweile vier sozialdemokratische Parteien gebe, meinte ich, SPD, Linke, Grüne und Piraten. Die vereinigt würden vielleicht etwas ergeben, was man man wieder als Sozialdemokratie bezeichnen könnte.
"Das geht aber nicht mit solchen Jungs wie Krause!" Da konnte ich nur zustimmen, Krause muss weg!

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